Amerikas »Geburtsurkunde«: Wie ein Jesuit America entdeckte
Die Holzstufen knarzen im Südturm des alten Schlosses von Wolfegg. Ein bisschen wie auf einem Segelschiff zu Zeiten Kolumbus. Die Wendeltreppe aus hellem Fichtenholz führt hinauf in die Bibliothek und von dort in die Geschichte des Kontinents, den der Genuese für die Neuzeit entdeckte. Denn hier auf den rohen Bodendielen unter dem Schlossdach, rund 20 Kilometer von Ravensburg entfernt, wurde vor 120 Jahren ein Dokument gefunden, das als die Geburtsurkunde des Doppelkontinents bezeichnet wird. Amerika in Oberschwaben, Weltgeschichte eingebunden in einen kunstvollen Buchdruck der Renaissance.
»Eigentlich ist es nicht logisch, eine Bibliothek in den höchsten Raum eines Schlosses zu legen. Wenn es hier brennt, der Blitz einschlägt, wäre alles verloren«, erklärt Bernd Mayer, seit 27 Jahren Leiter der Kunstsammlungen der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg. Vor 40 Jahren zog der kostbare Bücherschatz ins Erdgeschoss. Auch weil unter dem Gewicht des Papiers der Bücherturm in Schieflage geraten war. Die frei geräumten Regale wurden originalgetreu restauriert und bieten nun Kinderbüchern der Fürstenfamilie Platz neben weniger wertvollen Werken aus dem 19. Jahrhundert. Über eine schmale Treppe lässt sich die Balustrade der Bibliothek erklimmen. Fast alles hier im Südturm ist aus Holz, rustikal, und wäre da nicht der Blick auf die schwäbische Landidylle vor den großen Fenstern und das Schlagen der Kirchturmuhr, könnte man tatsächlich meinen, man befände sich im Bauch eines Segelschiffs.
Inmitten des großen, hellen Raums steht ein einfacher Holztisch, ein Kartentisch, groß genug, um die Welt zu entdecken. Hier mag der Jesuitenpater, Geograf und Kenner der historischen Kartografie Josef Fischer (1858-1944) gesessen haben, als er 1901 die meistgesuchte Karte aller Zeiten fand. »Die Kartenblätter sind einmal gefaltet und als Großfolio-Bogen gefalzt und gebunden«, beschrieb der Jesuit später seinen Fund im Begleittext zur Faksimile-Ausgabe der Karte. »Gefällige Renaissance-Ornamente« zierten den Buchrücken. Zwischen starken Deckeln aus Rotbuchenholz: eine Weltkarte vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Wenig später sollte sie als »Geburtsurkunde« und »Taufschein« Amerikas weltberühmt werden, denn auf ihr war zum ersten Mal der Name des neuen Kontinents vermerkt.
Im auf Latein verfassten Exlibris des von Fischer gefundenen Bands heißt es: »Nachwelt, Schöner überlässt dir dies als Geschenk und bleibende Erinnerung seines Talents«. Johannes Schöner (1477-1547) war Nürnberger Drucker und Kartograf, der die Weltkarte zusammen mit einer Meereskarte, der »Carta Marina«, und einer Sternenkarte von Albrecht Dürer zu einem Sammelband gebunden hatte. Aber nicht Schöner selbst war der Schöpfer der Wolfegger-Karte und der »Carta Marina«, sondern sein Lehrer: Martin Waldseemüller, der um 1472/1475 geboren wurde und im Jahr 1520 starb.
Fischers Fund erregt international Aufsehen
Vor 120 Jahren war Fischers Entdeckung eine Sensation. »In Europa wurde vor Kurzem eine der bemerkenswertesten Entdeckungen in der Geschichte der Kartografie gemacht«, berichtete die »New York Times« im März 1902 über den Fund in Oberschwaben. Um die Existenz einer solchen frühen Amerika-Karte wusste man schon lange, sogar der Universalgelehrte Alexander von Humboldt hatte sich in den 1830er Jahren auf die Suche nach ihr begeben. Letztlich war es ein Zufallsfund, eine glückliche Fügung, dass der kartenkundige Jesuitenpater aus dem nahen österreichischen Feldkirch als Lehrer der Fürstenkinder gute Beziehungen zum Haus pflegte. Bei einem seiner regelmäßigen Besuche hatte Fischer durch die über Jahrhunderte angehäuften Folianten gestöbert und war überraschend auf die Karte gestoßen.
»Bevor es die Gemeinde oder den Staat als Hüter der Geschichte in Form von Archiven gab, waren es die Klöster und der Adel, die Dokumente aufbewahrt haben«, erklärt der Archivar Mayer. So auch die »Geburtsurkunde Amerikas«, die der findige Jesuit Fischer aus den tausenden Büchern zog. Dabei handelt es sich um zwölf etwa DIN-A2-große Einzelblätter. Legt man sie in der korrekten Anordnung aneinander, bilden sie eine knapp drei Quadratmeter große Weltkarte mit den Seitenlängen 128 mal 233 Zentimeter. Dem US-amerikanischen Journalisten und Autor des Buches »Der vierte Kontinent« Toby Lester zufolge soll es sich »um eine der größten gedruckten Karten jener Zeit, wenn nicht sogar die größte« handeln.
Doch nicht ihre Größe war die eigentliche Sensation, sondern die Darstellung eines Kontinents, der gerade einmal 15 Jahre vor Erscheinen der Karte 1507 entdeckt wurde. Auf Höhe des heutigen Brasilien ist sein Name in großen Lettern vermerkt: »AMERICA«.
Während übliche Darstellungen jener Zeit das von Kolumbus entdeckte Land als Anhängsel Asiens präsentierten, verzeichnet diese Karte es als eigenständige Landmasse samt Pazifikküste. Dies ist umso Aufsehen erregender, weil niemand zu jener Zeit das Vorhandensein eines weiteren Ozeans erahnte. Erst 1513, sechs Jahre nach Erscheinen der Karte, erreichte historisch verbürgt der spanische Konquistador Vasco Núñez de Balboa (1475-1519) als erster Europäer die Westküste Amerikas und erblickte im Golf von Panama das Südmeer. Auch lässt sich auf dem Wolfegger Fund schon die markante Form Südamerikas bis nach Mittelamerika erkennen. Obwohl doch Ferdinand Magellan (1485-1521) den Kontinent erst 1520 von Süden her umfuhr. Nordamerika hingegen blieb auf der Karte als Terra Ulteri Incognita (auf Deutsch »unbekanntes entferntes Land«) eher verkümmert im Dunkel der Geschichte zurück.
Der Wert der Karte klettert auch dank Fischers PR
Mit Hilfe des Fürsten Franz von Waldburg zu Wolfegg und Waldsee (1833-1906) konnte Fischer schon zwei Jahre nach seinem Fund die Karte herausgeben, als Faksimile zusammen mit einem Begleittext. Der etwas langatmige Titel »Die älteste Karte mit dem Namen Amerika aus dem Jahre 1507 und die Carta Marina aus dem Jahr 1516 des M. Waldseemüller (Ilacomilus)« deutet die Zielrichtung schon an, der Sensationsfund sollte gute vermarktet werden: In mehreren bisher unveröffentlichten Briefen erklärt Fischer frei heraus, dass die Publikation den Verkaufspreis der Karte steigern sollte – in einem gewissen Sinne betrieb er wissenschaftlich verpackte Schleichwerbung.
Schon wenige Monate nach dem Fund Ende Juli 1901 hatte Fischer dem Fürsten vermeldet:
»Gestern bekam ich wieder einen Brief von dem Londoner Buchhändler [Henry Newton] Stevens, der einem amerikanischen Millionär und Sammler (…) derartige Karten vermittelt, persönlich würde er gerne für die Karten einen sehr hohen Preis zahlen (a very large price), sein amerikanischer Millionär würde, meint er, wahrscheinlich mehr geben als irgendein anderer. Ew. [Eure] Durchlaucht sehen, wie man die Karten zu schätzen weiß, und das wird sich noch steigern, wenn die Karten selbst vorliegen werden.«
Der Begleittext Fischers wurde zeitgleich auf Deutsch und Englisch veröffentlicht. Doch, so schreibt Fischer, »interessiert man sich auch in Südamerika lebhaft für ›die Wolfegger Karte‹ – ›den Taufschein Amerikas‹, wie sie in Brasilien genannt wird«. An den brasilianischen wie den US-amerikanischen Präsidenten schickte Fischer deswegen je ein Exemplar seines kommentierten Faksimile-Bands. Die Antwort aus dem Weißen Haus übermittelte Fischer an den schwäbischen Fürsten: US-Präsident Theodore Roosevelt bedankte sich schriftlich auf Englisch bei dem Jesuitenpater für das Geschenk und »seine wundervolle Arbeit«.
»Wie das die Berliner freuen wird«
Neben den beiden Präsidenten bedachte Fischer auch den Papst sowie den österreichischen und den deutschen Kaiser. Letzteren, da die Weltkarte auch die erste sei, die Berlin global verzeichnet: »Wie das die Berliner freuen wird«, frohlockte der geschäftstüchtige Jesuit, der dem Kaiser zum Geburtstag ein Exemplar schicken wollte, vermutlich aber eher, um einen weiteren potenziellen Kunden anzulocken.
Mit seiner Vermarktungsstrategie wollte sich Fischer sehr wahrscheinlich den Fürsten gewogen halten, um weiterhin bevorzugten Zugang zur Karte zu erhalten. Den brauchte er für seine wissenschaftliche Publikation und den Abdruck. »Je mehr man die Karte studiert, umso klarer erkennt man ihre hohe Bedeutung – sie ist eine monumentale«, erklärte der Jesuit 1902. Auch wurde Fischer, wie er seinem Fürsten beteuerte, auf Kongresse bis nach Washington geladen, und sein Fund solle auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis gezeigt werden. »Das alles verdanke ich der glücklichen Entdeckung der Wolfegger Karten und somit Ew. Durchlaucht, die mir den glücklichen Fund ermöglichte und seine Verwertung gestatteten.«
Die Karte bleibt – vorerst – in Oberschwaben
Verkauft wurde die Karte dann aber erst einmal nicht, vielleicht auch, weil man »von dem Verkauf eines solchen Unicums allzu großen Lärm« befürchtete. Solche Bedenken seines Koautors Franz Wieser führte Fischer jedenfalls in einem Schreiben an den Fürsten an. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« begrüßte, schreibt er 1910, dass der Fürst »den Atlas nicht für 1 ½ Mill. Mark hergeben würde«. Knapp 100 Jahre später bleibt die gleiche Zeitung ihrer Linie treu und empört sich über den jetzt doch drohenden Verkauf der Karte. Ein »Kulturdenkmal« würde da verscherbelt werden, »eines der berühmtesten deutschen Kulturgüter« überhaupt, ein »jahrhundertelang verschollenes Kronjuwel«, schrieb die »FAZ« 2001.
Da die Karte als Objekt Nr. 01301 auf der deutschen Kulturgüterliste stand und somit nicht ins Ausland verkauft werden durfte, musste zuvor die Bundesregierung unter Gerhard Schröder dem Verkauf mit einer Sonderausfuhrgenehmigung zustimmen. Als »Symbol der deutsch-amerikanischen Freundschaft« und, so vermuten einige Fachleute, als gewisse Gegenleistung für die Hilfe der USA bei der deutschen Wiedervereinigung wurde die Karte schließlich Ende Juni 2001, 100 Jahre nach ihrer Wiederentdeckung, an die Library of Congress in Washington verkauft. Zwei Jahre später erfolgte die Übergabe. Damit gehe ein »Projekt zu Ende«, erklärte der Verkäufer Johannes Fürst zu Waldburg-Wolfegg und Waldsee, »welches sich nahezu zehn Jahre lang hinzog und sich einem schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gehegten Wunsch der Kongressbibliothek der Vereinigten Staaten von Amerika anschloss: die Übertragung dieses für alle amerikanischen Völker überaus bedeutsamen historischen Dokuments zu dauerhaftem Verbleib auf dem amerikanischen Kontinent«, schreibt der Ururenkel des Mannes, in dessen Besitz die Karte einst gefunden wurde, im Vorwort einer Neuauflage der Publikation Fischers. Für rund 14 Millionen Dollar wechselten die Karten des kompletten Schöner-Sammelbands den Besitzer.
Zum 500. Jahrestag ihrer Entstehung und nach einer aufwändigen Konservierung übergab Bundeskanzlerin Angela Merkel 2007 noch einmal in einer symbolischen Zeremonie dieses »einzigartige Werk deutscher Kartografiekunst« an die US-amerikanische Kongressbibliothek. In Anwesenheit von Fürst zu Waldburg-Wolfegg und Waldsee erklärte sie in Washington die umstrittene Entscheidung für die Genehmigung des »Exports dieses deutschen Kulturguts« für richtig, denn sie »würdigt zum einen die Verdienste des amerikanischen Volks um Deutschland« in der Nachkriegszeit und »zum Zweiten ist sie ein sichtbarer Ausdruck der engen deutsch-amerikanischen Freundschaft«. Auch Fürst Johannes gab der Karte im Vorwort des Nachdrucks der Fischer-Publikation seinen Segen mit auf den Weg: »Möge der Waldseemüller-Karte an ihrem neuen Aufbewahrungsort so viel Liebe und Ehrfurcht entgegengebracht werden, wie sie ihr in den 350 Jahren auf Schloss Wolfegg von meinem Haus entgegengebracht wurde. Und möge sie vielen Menschen eine Brücke werden zur eigenen Geschichte und zur Geschichte des amerikanischen Kontinents.«
»Max-Willibald« ist seine Karte endgültig los
Auf einem der höchsten Punkte Oberschwabens, am Stammsitz seines Fürstengeschlechts, auf der nahe Wolfegg gelegenen Waldburg, findet das Maximilian Willibald (1604-1667) »im Nachhinein in Ordnung«. Das sprechende Porträt des 1667 gestorbenen Grafen von Waldburg-Wolfegg steht dem originalgroßen Faksimile der Wolfegger-Karte gegenüber. Per App hat der heutige Museumsleiter Max Haller den Truchsess zum Sprechen gebracht, damit er in einfachen Sätzen und »bewusst im Dialekt« zwischen den Streithähnen Christoph Kolumbus (um 1451-1506) und Amerigo Vespucci (1454-1512) vermittelt. Die beiden Entdecker, die sehr wahrscheinlich nie von der Namensgebung erfahren haben, streiten sich wortreich darum, ob es »Kolumbien« oder »Amerika« heißen müsse. Historische Genauigkeit ist dabei nicht oberste Priorität für Haller, dem es um Geschichtsvermittlung an Jugendliche geht.
»Max-Willibald« darf die Vermittlerrolle spielen, denn schließlich war er es, der den Kartenband für sein Kupferstichkabinett kaufte. Wohl um die Mitte des 17. Jahrhunderts schaffte er das Werk an und brachte es auf Schloss Wolfegg. Heute steht er dort selbst im berühmten Rittersaal des Schlosses als eine der 24 überlebensgroßen Holzskulpturen in der Ahnengalerie der Fürstendynastie. Das Deckengemälde darüber zeigt eine allegorische Darstellung des »guten Fürsten«. In jeder Deckenecke wurde dafür einer der vier Erdteile aufgemalt, die die kosmologische Ordnung symbolisieren sollen. Amerika, dargestellt als halbnackte, schwarze Amazonenkönigin, die auf einem Alligator reitet, befindet sich, wie kann es anders sein, in der südlichen Ecke, schräg unter der Bibliothek.
Gedruckt wurde die Wolfegger-Karte 1507 in einer Auflage von damals gewaltigen 1000 Exemplaren. Im Zeitalter der Entdeckungen veralteten Atlanten jedoch sehr schnell und mussten immer wieder aktualisiert werden: Viele Exemplare gingen dadurch verloren. Bei der 1901 wiedergefundenen Wolfegger-Karte, der einzigen bis heute wiederentdeckten, die sich nicht als Fälschung entpuppt hat, handelt es sich nach neuesten Erkenntnissen um einen Nachdruck aus dem Jahr 1516. Für die USA tut das dem identitätsstiftenden Charakter der Karte keinen Abbruch, auch wenn eigentlich Süd- und nicht Nordamerika mit der Namensgebung gemeint war.
In Wolfegg und Waldburg ist man sich einig, dass die Karte dort, wo sie jetzt ist, am besten aufgehoben, konserviert und präsentiert wird. Die Library of Congress besitzt die weltgrößte kartografische Sammlung mit allein fünf Millionen Karten, 100 000 Atlanten und mehr als 5000 Globen. Die Wolfegger-Karte ist öffentlich und kostenlos zugänglich und wird als Prunkstück in der Dauerausstellung »Exploring the Early Americas« von hunderttausenden Besuchern pro Jahr bestaunt. Außerdem wurde sie digitalisiert und steht so von Washington bis Wolfegg jedem Interessierten zur Verfügung.
Kulturpatriotismus ist in der Wissenschaft verpönt und einer Karte, die von der UNESCO 2005 zum Weltdokumentenerbe ernannt wurde, nicht angemessen. Museumsleiter Max Haller merkt zudem noch echt schwäbisch an, dass eine Ausstellung auf der Waldburg »viel zu teuer wäre, allein die Sicherheitsvorkehrungen und dann die Versicherung, nein, da würde ich keine Nacht mehr ruhig schlafen«. So ruht »die älteste Karte mit dem Namen Amerika«, der »Heilige Gral der Kartografie« nun hinter extra angefertigtem Sicherheitsglas in der Hauptstadt der »Terra Ulteri Incognita«.
In Teil 2 dieser Geschichte gehen wir der Frage nach, warum die Schöpfer der Karte Amerika als eigenständigen Kontinent zeichneten – und wieso sie seine Form so überraschend genau trafen: »Wie zwei Kartografen den amerikanischen Kontinent erfanden«
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